Wrangelstraße

Am frühen Morgen liegt das ganze Gebiet um die Wrangelstraße herum noch im Schlaf, während draußen der Tag schon in blass bleichen Farben beginnt. Meine Tasse Kaffee in der Hand stehe ich vor dem Fensterbrett und sehe hinaus.

In den Wohnungen gegenüber im Vorderhaus ist es dunkel und auch ringsherum in den angrenzenden Nachbarhäusern. Nur in meinem Zimmer und in meiner Küche brennt Licht.

Die Welt um mich herum wirkt noch unfertig, muss sich nach und nach, Stück für Stück erst zusammenzufügen, wie mein eigenes Leben auch, in dem ich wundersamer Weise auch heute Morgen wieder erwacht bin.

Der Wetterbericht im Info-Radio verspricht einen sonnigen und regenlosen Tag. Ich nehme einen letzten Schluck von meinem Kaffee, greife nach meiner Jacke und gehe hinaus.

Draußen auf der Straße herrscht eine Stille, die man zu keiner anderen Uhrzeit in der Wrangelstraße und ihren Seitenstraßen wahrnehmen wird, ein Rauschen, kaum hörbares Summen, das sich wiederum aus vielerlei Geräuschen zusammensetzt und darin, deutlich und überklar, lautes Vogelgezwitscher.

Das frühe Licht aber gibt nun Preis, was die Dunkelheit noch verborgen hat. Mein Blick streift über das, was der Strom der vorüber gezogenen Passanten in der Nacht und am Vortage auf dem Pflaster zurückgelassen hat.

Ringsherum auf dem Boden verstreut liegen Glassplitter, Zigarettenstummel und Kronkorken, Apfelsinenschalen, kleine Fetzen von Folie und Silberpapier.

Im Vorübergehen streift mein Blick an den Häuserwänden entlang, an den Graffities, Bildern, Parolen darauf: Botschaften, urbane Zeichen und Fresken, die man unlängst erst dort hinterlassen hat, oder die bereits halb verwittert sind, halb verschwunden, wie das an eine Hausfront gesprühte Portrait Mao Tse-Tungs.

Es ist eines der letzten dieser Mao-Bilder, die die Jahre überdauert haben, wenn auch nicht gänzlich unbeschädigt sondern nunmehr schon stark verblasst und in der Zwischenzeit bekritzelt und zerkratzt.

Damals, 1987, aber waren die Bilder plötzlich überall frisch im Wrangelkiez und im restlichen Kreuzberg aufgetaucht, zum ersten Male, wie ich mich noch entsinnen kann, kurze Zeit nach dem ersten Mai, allesamt wie es schien mit der gleichen Schablone gesprüht und der ebenfalls mit Schablone aufgetragenen immer gleichen Losung versehen: Rebellion ist berechtigt . . .

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