Stimmen

Sag mal, wird das jetzt eigentlich ein Geschichtsroman, woran du hier arbeitest? Und wenn ja, warum setzt du denn dann nicht viel früher schon an? Ende 80 zum Beispiel bei den ersten Hausbesetzungen in Berlin und nicht irgendwann 84, wo doch gar nichts mehr war?

Und warum nicht vielleicht dann sogar noch etwas früher beginnen, 78 zum Beispiel mit der Gründung der Taz? schlägt eine andere Stimme vor. War doch auch eigentlich ein ganz wichtiges Datum. . .

Eine dritte Stimme mischt sich ein und widerspricht, nicht ohne einen leicht gereizt klingenden Unterton: Und warum dann nicht gleich bei der Apo anfangen? Außerdem, gibt es da denn nicht sowieso schon ein Buch drüber? Mir fällt bloß jetzt nicht ein, wie das heißt. . .

Etwas reitet mich, lockt mich, jetzt darauf zu erwidern:“Warum eigentlich nicht? Und warum nicht tatsächlich bereits bei der Apo anfangen?“ Doch ich ahne bereits, was dann kommen wird. Und zudem war das ein wenig vor meiner Zeit. . .

Stattdessen schweige ich also, warte ab.

Bald darauf meldet sich eine neue Stimme zu Wort: Ich war auch damals mit in Bonn. Eine zweite erwidert: Mensch, du auch? Ja. Und was ist mit dir? fragen mich beide Stimmen zugleich. „Nein, ich war damals nur auf der Reagan-Demo in Berlin, und das eigentlich auch nur so halb . . . “

Eine Pause entsteht. Dann mit einem Mal lässt sich eine der Stimmen vom Anfang von neuem vernehmen: Ja, ich weiß noch,die Friedensdemo in Bonn damals, 500 000 Idioten in Bonn. . .

Was soll das denn jetzt heißen? kommt es daraufhin sogleich entrüstet zurück. Ja, erkläre doch mal, was das heißen soll. Ich find auch, dass du uns das vielleicht mal erklären solltest. . .find ich übrigens auch. . . und überhaupt, selber Idiot!

Wieso? fragt die Stimme zurück, nun schon einiges weniger überzeugt klingend und bereits in der Defensive: War doch wirklich vollkommener Blödsinn damals, da mit hin zu fahren und für den Frieden zu protestieren. . .

Und was war daran bitte Blödsinn? Und was war mit dir selbst? Wo bist du denn gewesen? Bestimmt bei der Marxistischen Gruppe. . .Kenn ich gar nicht . . . War das nicht so ne halbe Sekte damals? Keine Ahnung, nie gehört davon . . .

Ich aber kehre in Gedanken noch einmal an den Anfang zurück.

Eine quasi historischen Roman über Deutsche Geschichte im ausgehenden 20. Jahrhundert hatte ich ja eigentlich nie wirklich im Sinn gehabt, zu schreiben. . .

Wie aber, frage ich mich, kann ich im Folgenden nun von Carolin, von Andreas, von Martin und all den anderen Menschen hier berichten, ohne gleichzeitig auch darüber zu schreiben, was außerdem war und was um uns herum?

Denn nur so, denke ich, lässt sich alles das, alles das, was geschah und was nicht geschah, begreifen.

Also fahre ich fort zu erzählen . . .

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Erster Teil und getagged , . Bookmarken: Permanent-Link. Post a comment oder ein Trackback hinterlassen: Trackback-URL.

Kommentar hinterlassen

Ihre E-Mail wird niemals veröffentlicht oder verteilt. Benötigte Felder sind mit * markiert

*
*