Carolin

Von den zahlreichen Kritzelbildern, den Postkarten und den oftmals auf kleinen Zetteln oder aber auf der Rückseite eines silbernen Zigarettenpapiers von Carolin hinterlassenen Botschaften ist nur weniges erhalten geblieben.

Doch ich habe noch ein paar Fotografien von ihr, manche davon in Farbe, andere in Schwarz-Weiß.

Heute habe ich einen Brief von ihr erhalten. Und nachdem ich ihn gelesen habe, habe ich jene Fotos hervor gesucht, vielleicht, um den Strom der Erinnerung und der Ungewissheit darin, der mich plötzlich beim Lesen erfasst hatte, durch den Anblick dieser objektiven auf Papier gebannten Bilder einzudämmen, zu steuern und auf sicheren und beweisbaren Boden zurückzuführen.

Ich schaue auf Carolins junges, auf den Fotos kaum älter als zwanzig Jahre altes Gesicht, um mich noch einmal der vergangenen Zeitspanne zu versichern, die Ereignisse von damals klarer zu sehen, sie zunächst in die Ferne zu rücken und von dort aus allmählich heranzuholen, hierher.

So gehe ich in Gedanken noch einmal den gleichen Weg.

Ich kehre in jenes Zimmer zurück, jene winzige und kaum eingerichtete Wohnung in der Wrangelstraße, jene dort noch gemeinsam mit ihr verbrachte Nacht.

Ich sehe Carolins Gesicht am nächsten Morgen und die nachlässige Bewegung, mit der sie ihr Haar ordnet, ihre Hand, die sie beim Gähnen vor den Mund hält, sehe wie sie sich ein wenig fröstelnd schüttelt und dann auftsteht.

Ich erinnere mich an die Abwesenheit in ihrem Blick, an ein Stirnrunzeln, eine Falte um ihren Mund, die mir verraten, dass sie in Gedanken woanders ist, nicht in meiner Wohnung, bei mir, während wir uns beim Frühstück gegenüber sitzen.

Und ich erinnere mich an den Kuss, die Umarmung in der Tür, in deren Flüchtigkeit zugleich das Wissen um die Flüchtigkeit, die Entschuldigung dafür mitschwingen.

Noch im Türrahmen stehend höre ich das Geräusch ihrer Schritte, die die Treppenstufen hinab eilen und gleich darauf die Tür, die geöffnet wird, wieder zufällt.

Wie so oft, wenn wir so auseinander gehen, habe ich einen Augenblick lang das Gefühl, dass sie, Carolin, nunmehr ganz und gar fort und verschwunden ist, dass es vollkommen offen und ungewiss ist, ob und falls ja, wann, unter welchen Umständen, wie und als wer wir uns dann wieder gegenüber stehen werden.

An diesem Morgen aber wird es tatsächlich das letzte Mal sein, werde ich Carolin nicht mehr wiedersehen. . .

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