Prolog: Letzter Teil

Andreas war damals ebenfalls nur vorübergehend und als Aushilfe im Klinikum angestellt gewesen. Er war über die “Heinzelmännchen“, die studentische Arbeitsvermittlung an der Freien Universität an den Job gelangt wie ich auch. Doch er hatte schon einige Wochen vor mir dort angefangen und er war von den festangestellten Kollegen schon beinahe als einer von Ihnen betrachtet worden.

Er muss um diese Zeit herum bereits weit über dreißig gewesen sein, vielleicht auch schon vierzig, mehr als zehn Jahre älter also als ich seinerzeit, und er musste, so schätzte ich, das zwanzigste Semester schon deutlich überschritten haben, was für mich damals unvorstellbar gewesen war.

So beobachtete ich ihn mit Interesse und Neugier, begann ich in Gedanken damit, nach den möglichen Ursachen hierfür zu suchen, irgendeinem Charakter- und Wesensmerkmal, einem Auslöser, wunden Punkt innerhalb der Vergangenheit, der sein Leben, so glaubte ich, aus der Bahn gebracht haben musste.

Andreas jedoch, der meine Gedankengänge, wie ich spürte, erriet, nahm mir dies offenkundig nicht übel. Er schien umgekehrt sogar einen gewissen Spaß daran zu haben, mich dabei zu beobachten und von Zeit zu Zeit bei meinen wechselnden Schlußfolgerungen in die Irre zu führen. . .

Heute ist mir hingegen klar, dass ein Mensch immer nur an den Vorhaben scheitern kann, die er selbst sich gesetzt hat. Und ich weiß, dass ein anderes, den Anforderungen und Erwartungen unserer Welt vielleicht eher genügendes Leben, ihn, Andreas, für immer von den Dingen getrennt hätte, die für ihn von Bedeutung gewesen waren: seine Ungebundenheit, seine ausgedehnten privaten Studien und die Reisen, die er Jahr für Jahr unternahm.

Er war ausgesprochen belesen gewesen und sehr vielseitig interessiert, hatte Ethnologie studiert und sprach mehrere Sprachen.

Manchmal glaubte ich, war ich mir beinah sicher, dass er in seiner freien Zeit an einem Buch schreiben würde, einer wissenschaftlichen Arbeit oder aber womöglich auch an einem literarischen Werk. Doch ich habe ihn danach nie gefragt. Auch nicht als ich ihn später wiedersah.

Es war ungefähr ein Jahr später gewesen, genau an jenem 1. Mai 1987 als wir uns plötzlich wieder begegnet waren, unverhofft und inmitten der Mai-Unruhen, die am Nachmittag zunächst um den Lausitzer Platz herum ausgebrochen waren, und die später als Kreuzberger Mai-Krawalle in die Geschichte eingehen sollten.

Ich befand mich damals an der Kreuzung von Oranienstraße und Skalitzer Straße, gegenüber vom Görlitzer-Bahnhof, als ich ihn mit einem Mal in der Menge entdeckte: mit seinen wallenden langen Haaren, seinem unverkennbaren Bart und einer ruhigen und vollkommen gelassen wirkenden Miene inmitten all der aufgebrachten und tobenden Menschen um ihn herum.

Schließlich hatte Andreas mich gleichfalls erkannt und er hatte mich mit der gleichen freundlichen Ironie begrüßt wie in unserer gemeinsamen Zeit im Klinikum, so als läge es erst ein paar Tage zurück.

Und in meiner Erinnerung, auch jetzt, sind es stets diese beiden Momente, zu denen ich zurückkehre, während ich an Andreas denke, an mich selbst in dieser Zeit: jener Satz von ihm, der mich in all den Jahren begleitet hat wie ein Talisman, eine Losung, und jene Nacht des ersten Mais.

Immer noch sehe ich alles das genau vor mir, sehe ich wie Andreas und ich dort gemeinsam gestanden hatten, unwillkürlich wie gebannt auf die andere Seite der Straße blickend, das Geschehen dort, auf die Menschen, den Bolle-Markt gegenüber von uns, der noch immer geplündert wurde, und der kurze Zeit später zu brennen begann. Doch davon soll an späterer Stelle erzählt werden . . .

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Ein Kommentar

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