Brief aus dem Gefängnis

Lieber S.,

eben habe ich die letzten Seiten Deines angefangenen Roman-Manuskriptes zu Ende gelesen, die Du mir ausgedruckt und hierher geschickt hast, und ich bin bereits sehr gespannt darauf, wie die Geschichte weiter geht.

Am Beginn war es schon etwas überraschend und seltsam für mich, darin auch von mir selbst, von uns beiden zu lesen und mir so plötzlich als Romanfigur gegenüber zu stehen. Ich selbst hatte ja zuvor keine genaue Vorstellung davon, wovon Dein Roman handeln wird.

Doch dann fand ich es schön, dass Dein Text beim Lesen wieder so viele Gedanken und Erinnerungen wach rief. Manches, was Du schreibst, war mir selber noch gut im Gedächtnis gewesen. Anderes hatte ich dagegen schon beinah vergessen, oder aber auch damals ganz anders wahrgenommen und erlebt.

Ich denke an bestimmte Tage und Nächte zurück, eine unbestimmte Suche nach einem anderen Leben, fernab von den Banalitäten des Alltags, einem Leben, das wir damals häufig jedoch nur in Negation ausdrücken konnten.

Und ich denke unsere Hoffnungen und Erwartungen zurück, den Versuch gemeinsam einen Weg zu finden, an die Texte, die wir zusammen gelesen haben, an Rimbaud und Artaud, an das Blaue Bild. Hast Du es eigentlich aufgehoben oder auch damals mit den übrigen Dingen weggetan?

Viel von dem, was wir damals geglaubt haben, mag aus heutiger Perspektive heraus vielleicht völlig utopisch und unrealistisch erscheinen, konnte letztlich vielleicht nur an den eigenen viel zu hoch angesetzten Ansprüchen scheitern.

Dennoch denke ich vielleicht weniger pessimistisch als Du an die Ereignisse der Vergangenheit zurück, wie sie damals geschehen sind und an das, was womöglich noch kommt.

Überall auf der Welt finden nach wie vor Auseinandersetzungen statt, kämpfen Menschen in ihrem Alltag, im Kleinen und Großen für bessere Lebensbedingungen, ihre Freiheit und persönlichen Rechte, im Augenblick gerade auch wieder hier.

Und vielleicht sind es genau diese kleinen alltäglichen Kämpfe und Dinge, die so wichtig sind für unser Leben, und die wir damals einfach in ihrer Bedeutung für uns verkannt haben.

Doch zurück nochmal zu Deinem Text. Die bei Dir eingegangenen Leserkommentare, die Du mit geschickt hattest, habe ich gelesen. Aber wie war denn sonst bisher so die Resonanz? Wieviele Leute lesen denn eigentlich so die Geschichte im Augenblick mit? Hat sich schon ein Verlag dafür interessiert? Und was sagen denn eigentlich Martin und Steffen dazu?

Liebe Grüße- auch an die Anderen- und bald mehr von mir,
Carolin

27. Dezember 2009, Frauenhaftanstalt Berlin-Pankow

PS: Und was ist eigentlich aus der Geschichte mit Deiner Nachbarin geworden? Oder hast Du die nur erfunden?

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