Romananfang

Prolog

„Vielleicht bedeuten die Worte ja gar nichts“, hatte Andreas mir einst gesagt, „vielleicht klingen sie nur.“ Ein Gedanke, der mich späterhin immer wieder zu trösten vermocht hat, wenn auch stets nur für kurze Zeit. Die Vorstellung, dass die Wirklichkeit, all die Dinge um mich herum nichts bedeuten müssen aber alles bedeuten können, war für mich dabei mit einem plötzlichen Gefühl der Freiheit verbunden gewesen.

Mein Leben, so schien es mir dann, hatte sich wieder an einen Nullpunkt zurückbegeben. Ein Zustand, der mich gleichermaßen den Begrenzungen meiner Gegenwart, meines gewohnten Alltags enthob und was vorher war von mir ablöste.

Die Last, die Versäumnisse der Vergangenheit fielen mit einem Mal von mir ab und an ihre Stelle trat eine wiedergewonnene Klarheit und Zuversicht, eine schon vergessen geglaubte Leichtigkeit.

Nichts, spürte ich, nichts war verloren. Und eine ungeheure Möglichkeit tat sich unversehens vor mir auf, rauschend und zerbrechlich wie alle Augenblicke des Glücks.

Ich weiß nicht mehr, womit unser Gespräch damals begonnen hatte und wie es schließlich bis an diesen Punkt gelangt war. Doch ich erinnere mich noch genau an Andreas Gesicht, seine Miene dabei, in der sich, wie so oft wenn er von etwas sprach, wenn er irgendetwas erzählte, neben seiner Begeisterung, eine leise Spur von Ironie widergespiegelt hatte.

Und ich sehe, auch jetzt noch, sein Lächeln vor mir, in dem beides zugleich gelegen hatte: eine unverkennbare Zufriedenheit über das gerade von ihm Gesagte und zugleich ein gewisses Bedauern.

Alles das aber liegt bereits weit zurück und gehört einer kaum mehr begreifbaren Zeit und Vergangenheit an.

Eine Zeit, in der der Wrangelkiez im Winter noch angefüllt war vom Geruch der Kohleöfen, mit denen vielerorts noch geheizt wurde, und in der es dort auf nur zweihundert Metern gleich drei Blumengeschäfte gab aber noch keine einzige Bar, keinen “Coffee to go“.

Eine Zeit, in der sich über den Sommer hinweg noch keine Ströme von Amüsierwilligen und Touristen über die Wrangelstraße und ihre Seitenstraßen ergossen und kaum Nachtschwärmer sich an den Wochenenden je dorthin verirrten.

Eine Zeit, in der die Geschäfte um 18 Uhr schlossen und in welcher man in den Dönerläden im Kiez und in ganz SO 36 noch kein Becks kaufen konnte, kein Warsteiner oder etwa gar Tannenzäpfle, sondern ausschließlich Schultheiß oder Kindl.

Eine Zeit, um es kurz zu sagen, in der die Wrangelstraße noch eine reine Tagesstraße gewesen war und die gesamte Gegend um das Schlesische Tor herum in der Nacht nahezu menschenleer: ruhig und selbstvergessen dort am Rande von Kreuzberg gelegen, oder, wie ich damals empfand, am Rande der Welt . . .

Unsere Aufgabe hatte darin bestanden, die zu uns gelangenden gebrauchten Krankenbetten in Empfang zu nehmen und für ihren späteren Wiedergebrauch vorzubereiten: eine Tätigkeit, in die Andreas mich an meinem ersten Arbeitstag eingewiesen hatte, und deren wiederkehrende Abläufe sich mir rasch einprägten.

Zunächst wurde das Bettzeug abgezogen, dann die Matratzen abgenommen, um sterilisiert zu werden. Zuletzt aber wurden die Bettgestelle gesäubert und desinfiziert. Dies geschah entweder manuell oder aber mit Hilfe einer automatischen Waschanlage.

Die Betten aber hatten zuvor Patienten gehört, die entweder entlassen, in andere Krankenhäuser verlegt worden, oder aber verstorben waren.

Dann befand sich ein kleiner Zettel am Bettende, in wechselnder Handschrift beschrieben und mit einem Stück Pflasterband oder Tesafilm am Bettrahmen befestigt, auf dem das Wort “Exitus“ vermerkt war oder einfach nur die zwei Buchstaben “Ex“.

Und vielleicht war es gerade das gewesen, war es weniger die Tatsache des Todes selbst, die mich bei diesem Anblick immer seltsam berührt hatte, als vielmehr die lakonische Art und Weise, in der wir davon Nachricht erhielten.

Um den Nachschub an Betten brauchten wir uns nicht selbst zu kümmern. Dies hatte “Snoopy“ getan, eine Art fahrender Untersatz, ein “Roboter“, wie Andreas mir nicht ohne Stolz erklärt hatte, der selbständig die Stationen des Klinikums ansteuerte und die gebrauchten Betten dort wo die Schwestern sie vor den Aufzügen abgestellt hatten abholte und dann zu uns fuhr.

Ich erinnere mich, dass der Zustrom an Betten je nach Tag und nach Tageszeit immer unterschiedlich und mal stärker, mal schwächer ausfiel, jedoch kaum einmal abriss.

Wenn aber doch einmal eine Pause entstanden war, hatten wir sogleich, einer stillschweigenden Übereinkunft folgend, damit begonnen aufzuräumen, den Fußboden zu fegen und dergleichen mehr.

Dabei waren wir stets so gewissenhaft unserer neuen Beschäftigung nachgegangen, dass niemals jemand anderes bemerkt hatte, dass wir eigentlich nichts zu tun hatten, oder aber auf den Gedanken gekommen wäre, uns derweil eine andere Arbeit anzuvertrauen.

Ich erinnere mich noch an unsere Gespräche, in denen Andreas mir während der Frühstücks- und Mittagspausen oftmals von seinen Reisen erzählte, von Indien, von Benares, während Snoopy zur gleichen Zeit suchend die Stockwerke auf- und abfuhr.

Und ich erinnere mich an die mir damals labyrinthisch erscheinenden Gänge und Flure des Klinikums, über die ich, wie mir schien, jeden Tag auf einem anderen und neuen Wege zu meiner Arbeit gelangte und am Ende davon wieder hinaus.

Dies aber war zugleich Ausdruck und Folge eines leider nur unzureichend ausgeprägten Orientierungssinnes, der mich Zeit meines Lebens begleitet hat, und der womöglich auch der Grund dafür war und ist, dass ich die mir vertraut gewordene Gegend um die Wrangelstraße herum, in der ich mich zurechtfand, einmal dorthin gelangt und dort lebend, später niemals mehr wirklich verlassen wollte . . .

In meiner Wohnung in der Wrangelstraße sah es zu dieser Zeit noch beinahe genauso aus wie am Tag meines Einzuges dort, obwohl dieser bereits gut ein halbes Jahr zurücklag. Ein Großteil meiner Bücher und persönlichen Dinge war noch immer nicht ausgepackt und befand sich noch in den gleichen Umzugskartons, die ich an einer der Wände aufgereiht hatte. Außer diesen Kartons enthielt der Raum jedoch nahezu keine Einrichtung.

Ich besaß, wie ich mich noch entsinnen kann, damals nichts weiter als ein Regal, in dem ich meine Wäsche verwahrte, einen Tisch und einen einzigen Stuhl. Ich selbst aber schlief des Nachts auf einer schmalen und dünnen Matte auf dem Boden, wie in einem Zelt.

Die Gründe hierfür waren unterschiedlicher Natur. So war ein Teil meiner Sachen und Möbel im Verlauf der vorangegangenen Umzüge verloren gegangen, das meiste davon in meiner ehemaligen Wohngemeinschaft, die sich in meiner Abwesenheit, während ich noch auf Reisen gewesen war, aufgelöst hatte.

Hinzu kam, dass ich die neue Wohnung zunächst nur als eine Art Übergangslösung betrachtet hatte, ein vorübergehendes Provisorium, in dem ich, wie ich glaubte, nur auf kurze Zeit verweilen würde. Also hatte ich in der Überzeugung gelebt, dass es nicht wirklich lohne, sich auf einen längeren Aufenthalt dort einzustellen.

Die eigentlich Ursache aber lag, wie ich heute bekennen muss, in meiner Müdigkeit begründet, aus der ich mich damals niemals ganz, selbst am Tage nicht vollständig zu lösen vermochte.

Eine Müdigkeit, die ich auf meine fortwährende nächtliche Schlaflosigkeit zurückführte, in der ich aber paradoxerweise zugleich auch die Ursache jener Schlaflosigkeit zu erkennen glaubte.

Denn mitunter erschien es mir so, als ob meine Müdigkeit selbst mich daran hinderte einzuschlafen, wenn ich nachts oftmals viele Stunden noch wach lag: in einem Zwischenbereich, einer Grauzone aus Halbgedanken und Halbträumen, bereits nah an der Grenze zum Schlaf, ohne jedoch endgültig dort hinzugelangen.

So begab ich mich zumeist mit nur wenigen Stunden Schlaf am Morgen zum Klinikum, wo ich mich übermüdet und blass meiner Arbeit überließ, deren Gleichlauf nur selten einmal unterbrochen wurde.

Dies geschah aber immer dann, wenn zwischen all den anderen Krankenbetten plötzlich eines der grünbezogenen “Quarantänebetten“ aus einer der Isolierstationen zu uns gelangte.

Dann hatten wir zusätzlich zu den Handschuhen, die wir bei unserer Arbeit stets trugen, noch Kittel angezogen und einen Mundschutz angelegt, waren wir bei der Reinigung darum bemüht gewesen, besonders sorgsam und gründlich zu verfahren.

In meinen Gedanken aber hatten sich dabei unweigerlich Vorstellungen von den möglichen Krankheiten geregt, die sich mit diesen Betten verbanden, und die sich womöglich auf uns übertragen konnten: Bilder von Fieberdämmer, von unbekannten Ausschlägen und Läsionen, Bilder die im gleichen Maße unbestimmt waren und dramatisch . . .

Und von Zeit zu Zeit stand ich vor einem Krankenbett dessen Laken ausgedehnte Blutflecke aufwies, manchmal noch feucht und ganz frisch: Spuren einer möglichen Katastrophe von deren Ausgang ich indes nie erfuhr.

Andreas war damals ebenfalls nur vorübergehend und als Aushilfe im Klinikum angestellt gewesen. Er war über die “Heinzelmännchen“, die studentische Arbeitsvermittlung an der Freien Universität an den Job gelangt wie ich auch. Doch er hatte schon einige Wochen vor mir dort angefangen und er war von den festangestellten Kollegen schon beinahe als einer von Ihnen betrachtet worden.

Er muss um diese Zeit herum bereits weit über dreißig gewesen sein, vielleicht auch schon vierzig, mehr als zehn Jahre älter also als ich seinerzeit, und er musste, so schätzte ich, das zwanzigste Semester schon deutlich überschritten haben, was für mich damals unvorstellbar gewesen war.

So beobachtete ich ihn mit Interesse und Neugier, begann ich in Gedanken damit, nach den möglichen Ursachen hierfür zu suchen, irgendeinem Charakter- und Wesensmerkmal, einem Auslöser, wunden Punkt innerhalb der Vergangenheit, der sein Leben, so glaubte ich, aus der Bahn gebracht haben musste.

Andreas jedoch, der meine Gedankengänge, wie ich spürte, erriet, nahm mir dies offenkundig nicht übel. Er schien umgekehrt sogar einen gewissen Spaß daran zu haben, mich dabei zu beobachten und von Zeit zu Zeit bei meinen wechselnden Schlußfolgerungen in die Irre zu führen. . .

Heute ist mir hingegen klar, dass ein Mensch immer nur an den Vorhaben scheitern kann, die er selbst sich gesetzt hat. Und ich weiß, dass ein anderes, den Anforderungen und Erwartungen unserer Welt vielleicht eher genügendes Leben, ihn, Andreas, für immer von den Dingen getrennt hätte, die für ihn von Bedeutung gewesen waren: seine Ungebundenheit, seine ausgedehnten privaten Studien und die Reisen, die er Jahr für Jahr unternahm.

Er war ausgesprochen belesen gewesen und sehr vielseitig interessiert, hatte Ethnologie studiert und sprach mehrere Sprachen.

Manchmal glaubte ich, war ich mir beinah sicher, dass er in seiner freien Zeit an einem Buch schreiben würde, einer wissenschaftlichen Arbeit oder aber womöglich auch an einem literarischen Werk. Doch ich habe ihn danach nie gefragt. Auch nicht als ich ihn später wiedersah.

Es war ungefähr ein Jahr später gewesen, genau an jenem 1. Mai 1987 als wir uns plötzlich wieder begegnet waren, unverhofft und inmitten der Mai-Unruhen, die am Nachmittag zunächst um den Lausitzer Platz herum ausgebrochen waren, und die später als Kreuzberger Mai-Krawalle in die Geschichte eingehen sollten.

Ich befand mich damals an der Kreuzung von Oranienstraße und Skalitzer Straße, gegenüber vom Görlitzer-Bahnhof, als ich ihn mit einem Mal in der Menge entdeckte: mit seinen wallenden langen Haaren, seinem unverkennbaren Bart und einer ruhigen und vollkommen gelassen wirkenden Miene inmitten all der aufgebrachten und tobenden Menschen um ihn herum.

Schließlich hatte Andreas mich gleichfalls erkannt und er hatte mich mit der gleichen freundlichen Ironie begrüßt wie in unserer gemeinsamen Zeit im Klinikum, so als läge es erst ein paar Tage zurück.

Und in meiner Erinnerung, auch jetzt, sind es stets diese beiden Momente, zu denen ich zurückkehre, während ich an Andreas denke, an mich selbst in dieser Zeit: jener Satz von ihm, der mich in all den Jahren begleitet hat wie ein Talisman, eine Losung, und jene Nacht des ersten Mais.

Immer noch sehe ich alles das genau vor mir, sehe ich wie Andreas und ich dort gemeinsam gestanden hatten, unwillkürlich wie gebannt auf die andere Seite der Straße blickend, das Geschehen dort, auf die Menschen, den Bolle-Markt gegenüber von uns, der noch immer geplündert wurde, und der kurze Zeit später zu brennen begann. Doch davon soll an späterer Stelle erzählt werden . . .

Fortsetzung