Vom Leben als Kunstwerk Teil 4

Um das tägliche Leben aus seinen Begrenzungen lösen zu können, aus Gleichlauf und Routine, aus vorhandenen und überkommenen Normen und Konventionen mussten diese überwunden und aufgehoben werden.

Dabei galt es im gleichen Maße äußere wie innere, gesellschaftliche und persönliche Grenzen zu erkennen und zu überschreiten, wie mir damals schien.

Die Vision einer möglichen Verschmelzung von Alltag und Kunst war indessen nicht vollkommen neu und bereits vor den Situationisten war damit schon in früherer Zeit in verschiedenerlei Form und Gestalt experimentiert worden.

So hatte sich Antonin Artaud in seinen Schriften zum Theater gegen eine Trennung von Leben und Kultur und von Bühne und Zuschauerraum gewandt.

Und er hatte im gleichen Zuge gefordert, die jetzigen Theatersäle aufzugeben und in Zukunft in Scheunen und Schuppen zu spielen.

Statt an künstlerischen Formen zu haften, aber sollten die Kulturschaffenden sich laut Artaud dessen bemächtigen was noch nicht ist und dabei sein wie Verurteilte, die von ihrem Scheiterhaufen herab Zeichen machen . . .

John Cage hatte in seinen Kompositionen mit Geräuschen und Zufallsoperationen zu experimentieren begonnen und in seinem Stück 4,33 eine Gruppe von Musikern die Bühne betreten und nach 4 Minuten und 33 Sekunden wieder verlassen lassen, ohne dass dabei irgendein Instrument gespielt worden war.

An Stelle dessen hatten ausschließlich die Geräusche, die von draußen herein drangen, den Raum erfüllt und zugleich die Geräusche des Publikums selbst: sein Atem, Rascheln oder Husten, sein Protest und sein Tuscheln und Flüstern. . .

Alle diese Versuche indes hatten den der Kunst zugestandenen Raum zwar erweitert, ihn dabei aber tatsächlich nie verlassen.

Eine radikale Befreiung von Leben und Kunst jedoch konnte, so glaubte ich, nicht ohne eine gleichzeitige radikale Veränderung und Befreiung der ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse geschehen.

Kunst musste also demnach nicht allein mit dem Alltag und Leben verschmelzen, sondern gleichzeitig auch mit Politik.

Und politische Aktion musste sich in ihren Handlungen auch künstlerischer und kreativer Ausdrucksmittel und Elemente bedienen.

Unser Leben aber fand hier und jetzt in der Gegenwart statt, konnte nicht darauf warten, bis die Welt um uns herum sich vielleicht in ferner Zukunft verändern würde, sondern musste diesen Zustand der Befreiung in gewisser Weise schon vorweg nehmen.

So hatte ich gehofft, jener Falle zu entgehen, die sich unweigerlich, wie es mir damals schien, vor mir auftat: einem vorgezeichneten und mir zugedachten schon im voraus absehbaren Leben, dessen Bogen sich von seinem Beginn, von Geburt bereits an unsichtbar über Schule und Studium, Arbeit und Beruf, Familie und Karriere hinweg bis zum Ende hin spannte. . .

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