Sirenen

Als Kind habe ich an den endlos sich dehnenden Sonntagnachmittagen oft die Kennzeichen der vorbeifahrenden Autos, die sich auf dem Weg aus der Stadt hinaus befanden oder aber aus der entgegengesetzten Richtung von der Bundesstraße her kamen, aufgeschrieben: Eine Chronik der An- und Abreise, an einem zufälligen und beliebigen Punkt der Zeit aufgenommen und wieder endend, die keinem anderen Zweck galt, als dem Zeitvertreib und gelegentlichen Erraten der Herkunftsorte, wenn mir eine der Buchstabenfolgen auf der Nummernschildern der Autos unbekannt gewesen war, in der aber, wie ich heute glaube, jenes spätere Fernweh schon schlummerte, ein noch unausgesprochener, undurchführbar gewesener Entschluss zur Flucht.

Ich erinnere mich noch daran, dass es mitunter länger andauernde Phasen gegeben hatte, während derer kein einziger Wagen die Straße entlanggefahren war. Dann aber wieder waren mit einem Male gleich mehrere Autos aus beiden Richtungen zugleich an mir vorbeigeschossen, sodass es mir unmöglich gewesen war, ihre Kennzeichen gleichzeitig zu erfassen und in meinem Schreibheft zu notieren. . .

Mein Versuch, Gegenwart und Vergangenes zu ordnen, voneinander zu trennen scheitert.

Und zugleich, während ich mich zu fragen versuche, was in mir die Erinnerung daran aufsucht, kenne ich schon die Antwort.

Es ist Sonntag. Mein Blick schweift im Vorbeigehen über die Auslagen auf dem Flohmarkt am Ostbahnhof. Manche der Stände sind trotz guten Wetters und der sommerlichen Wärme unvermietet geblieben, an anderen werden alte Münzen und Briefmarken in schweren aufgeschlagenen Alben angeboten.

Ich betrete den Bahnhof durch einen der Eingänge und laufe die Treppenstufen hinauf.

Drinnen angelangt beginnt sich die Erinnerung zu teilen. Sie bietet unterschiedliche Wege an, unterschiedliche Enden: Ich muss an Carolin denken, an gemeinsame Zugfahrten, an Umarmungen in verhangenen Abteilen, deren Ausgang für heutige jüngere Generationen womöglich anrührend harmlos verlaufen war, laufe durch die Bahnhofshalle der Stazione Termini.

Ich nehme Platz auf einer Bank, lausche auf die Geräusche der ein- und ausfahrenden Bahnen.

Die Stimmen aber, die die Ankunft und Abfahrt der Züge verkünden, gehören Sirenen, die mich in ein Land der Unschärfe und der Müdigkeit locken. . .

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in Dritter Teil und getagged , , . Bookmarken: Permanent-Link. Post a comment oder ein Trackback hinterlassen: Trackback-URL.

Kommentar hinterlassen

Ihre E-Mail wird niemals veröffentlicht oder verteilt. Benötigte Felder sind mit * markiert

*
*