Todesanzeigen

Irgendwann in der Kindheit, ich muss damals noch in der dritten oder vierten Klasse der Grundschule gewesen sein, nicht älter, hatte ich, ohne dass es mir selber klar und begreiflich gewesen wäre, was mich dabei bewegte und warum ich es tat, einem unbestimmten Sog folgend damit angefangen, die im hinteren Anzeigenteil der Lokalzeitung abgedruckt gewesenen Todesanzeigen auszuschneiden und zu sammeln, sobald die Zeitungen ausgelesen und die nicht mehr benötigten Exemplare auf dem Altpapierstapel im Flur gelandet waren.

Ich weiß nicht mehr, welchen Kriterien ich damals gefolgt war, und ob es überhaupt solche gegeben hatte, ob es eher das Alter oder die Namen der Verstorbenen gewesen waren, die mich dabei geleitet haben mochten, Text und Wortlaut der Anzeigen oder eher als das deren Aufmachung, Gestaltung und Form, nach denen ich meine Auswahl getroffen hatte.

Denn ich hatte dabei, wie ich mich noch entsinnen kann, keineswegs alle Todesanzeigen aus der Zeitung herausgeschnitten, sondern immer nur einige, manche.

Diese aber hatte ich nach dem Ausschneiden in ein eigens zu diesem Zweck von mir angelegtes Schreibheft eingeklebt und sie darin verwahrt.

Ich erinnere mich daran, dass es sich bei den Verstorbenen, von denen ich in den Anzeigen las, stets um Fremde gehandelt hatte, nie um irgendwelche Personen, die ich selber gekannt oder von denen ich zuvor gehört hatte.

Und daran, dass mir damals bewusst gewesen war, dass ich mein Tun geheim halten musste, niemand davon erzählen durfte, auch wenn ich mir selbst dabei keiner Schuld bewusst gewesen war.

Das Ganze hatte ein jähes Ende gefunden, nachdem meine Mutter das Heft gefunden und mich darüber zur Rede gestellt hatte.

Später sagte sie mir, dass sie lange Zeit hin und her überlegt habe und im Zweifel darüber gewesen sei, mich deswegen zu einem Psychiater zu bringen.

Ich selbst aber hatte damals zu alldem geschwiegen. . .

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